ADHS-Organisation elpos Schweiz

Wie Pädagogen und Therapeuten ihre ADHS-betroffenen Schützlinge erleben

Erfahrungsbericht einer Fachperson

ADHS-Organisation elpos Zürich – Erfahrungsbericht – Erfahrungen mit ADHS

Nüchtern betrachtet: Es ist so, wie es ist. Ich «muss» es aushalten, es gehört zu meinem Job. Ich «muss es aushalten wollen» – und darf mir dazu auch Hilfe holen von aussen. Es ist ganz bestimmt anders – und doch so sehr anders auch wieder nicht, wie ich nach 30-jährigem Schulalltag als Primarlehrer feststellen kann. Vor allem aber merke ich, dass es für die betroffenen Kinder und Eltern oft sehr wohl einen Unterschied zwischen Familien- und Schulalltag gibt.

Immer wieder kommt mir in gewissen Schulsituationen dazu ein Elternzitat (anlässlich des letzten Beurteilungsgesprächs vor dem Wechsel in die nächste Schulstufe – der Junge war 4 Jahre bei mir in der Klasse) in den Sinn: «Für unseren Sohn war das Allerwichtigste, dass sie in den vergangenen vier Jahren immer Ruhe bewahrten und Geduld hatten. Dass sie ihn nie anschrieen und er trotzdem wusste, woran er mit ihnen war. Wir schaffen dies im Alltag längst nicht immer (…)! Und ganz vielen Dank, dass sie uns nie spüren liessen, was wir alles «falsch» machten. Dass sie unser Verhalten und jenes unseres Kindes nicht werteten, sondern einfach die Tatsachen auf den Tisch legten und wir gemeinsam nach Lösungen suchen konnten». Die Mutter des Jungen arbeitet selbst in einem pädagogischen Beruf.
Diese Aussage veranlasste mich zum Nachdenken über mein Handeln und meinen Umgang mit «solchen Kindern». Bewahrte ich wirklich immer die Ruhe? Na ja! Aber anscheinend wurde es von Kind und Eltern durchaus so wahrgenommen. Vor allem die letzte Aussage der Eltern provoziert bei mir die Frage: Ist letztlich gar nicht ADHS das Problem sondern vielmehr, wie unterschiedlich wir damit umgehen (können)?

Ich stelle fest: Im Gegensatz zu den Eltern habe ich zu jedem Kind der Klasse, trotz aller Nähe, doch eine grössere emotionale, quasi professionellere, Distanz. Dieser distanziertere Rahmen ist allein schon durch den Schulalltag (z.B. das Pensum, die Lektionen, den Lehrplan, die Bedürfnisse der Klasse, meine Art des Unterrichtens, die Schulhausspielregeln, etc.) gegeben und auch für das betroffene Kind irgendwie logisch, weil der Rahmen ja für alle Kinder der Klasse gleich ist. Dieses Gefühl der Gerechtigkeit ist gerade auch für Kinder mit ADHS enorm wichtig!

Ich realisiere immer mehr, dass ich von diesen Kindern eigentlich gar nichts anderes erwarte als von den anderen SchülerInnen auch – und sie realisieren dies ebenfalls. Das ist eine wichtige Basis für die Zusammenarbeit. Verhaltensregeln einfordern wird so durchaus auch als fördernd und gerecht empfunden. Gerade solche Kinder haben ein spezielles Sensorium dafür. Der Gerechtigkeitssinn ist oft «extremer» ausgebildet als bei anderen Kindern. Das Reagieren auf «Ungerechtigkeit» wirkt deshalb oftmals auch heftiger. Das Gefühl, verstanden und gerecht behandelt zu werden, auch wenn man öfter an die Einhaltung von Regeln gemahnt werden muss, ist von unschätzbarem Wert für die Kooperation zwischen Kind und Lehrkraft. Die Zusammenarbeit zwischen mir und dem oben erwähnten Jungen lebte ganz klar davon, dass er spürte, dass ich ihn trotz aller, teilweise auch recht harter, sturer Einforderung von Regeln, schlicht und einfach gern hatte. Und er mochte mich genau deswegen auch – und so hatten wir die Basis gelegt für vier Jahre intensiver, aber sehr erspriesslicher Zusammenarbeit – welche mit der Zeit sogar die Situation zu Hause entschärfte.

Eine zweite Feststellung, die ich machen durfte: «Was ich für Kinder mit ADHS mache, ist eigentlich auch gut für die anderen Kinder der Klasse!» Dies war zwar zu Beginn meiner ersten Erfahrungen mit betroffenen Kindern in der Klasse eine reine Vermutung. Doch im Laufe der Jahre hat sich dieses Gefühl ganz klar erhärtet. Viele meiner klar als Massnahmen für betroffene Kinder deklarierten Handlungen und Spielregeln, nützen oftmals auch dem einen oder anderen Kind der Klasse.

Dazu einige Beispiele:

  • Ich beginne den Unterricht erst, wenn wirklich Ruhe und Aufmerksamkeit herrscht.
  • Zu Beginn jeden Morgens wird der Ablauf des Tages am grossen Pensum betrachtet. Die Kinder müssen wissen, was sie alles erwartet, was ich von ihnen erwarte.
  • Alles Überflüssige weg vom Tisch (oft erhält das Kind zusätzlich einen farbigen Fotokarton als Unterlage unter sein Blatt/Heft – dies schränkt den Blickwinkel hilfreicher ein als die unendliche Weite des Tisches).
  • Ich vergewissere mich immer wieder, ob meine Schritte klein genug und gut strukturiert sind. Offene Unterrichtsformen, die ich beispielsweise toll finde, können die Kinder manchmal auch überfordern.
  • Ich habe mich ertappt, dass ich lebhafter, mitteilsamer, enthusiastischer, expressiver unterrichte – und in gewissen Situationen bewusst auch eine unerwartete, überdeutliche Ruhe «ausspiele». Selten aber bin ich emotional neutral. Ich möchte erlebbar sein für das Kind. Dazu habe ich gelernt, sehr viele Situationen mit Humor zu nehmen, darüber zu schmunzeln – und doch «das Falsche» klar zu benennen.
  • Ich versuche, klar zu sein in meinen Aussagen und in meinem Handeln. Ich bin standhafter geworden in der Einforderung gewisser Regeln. Dazu müssen die Kinder aber wissen, dass ich es bin, der den Überblick hat. Ich muss «wach» sein und kann gewisse Situationen/Abläufe mittlerweile vorausahnen.
  • Es fällt mir auf, dass ich öfter als zu anderen Kindern eine räumliche Nähe zum betroffenen Kind herstelle. Es muss mich in Mimik und Gestik immer wahrnehmen können. Oft hilft nach gewisser Zeit ein Blickkontakt im richtigen Moment, um «dumme Situationen» erst gar nicht mehr aufkommen zu lassen. Oft spürt es mich sogar körperlich (ein Schulterklopfen, ein unerwarteter, wohlwollender Händedruck statt «nur» zu sagen «Das hast du gut gemacht!» hat eine enorme Wirkung).
  • Wenn es wirklich etwas Ernsthaftes zu kritisieren gibt, mache ich dies immer unter vier Augen. Das Kind ist wegen seines auffälligeren Verhaltens schon genügend «ausgestellt», da ist ein unbedachter, öffentlicher Tadel kontraproduktiv. Zudem will ich für das Kind immer gesprächsbereit sein.
  • Ich suche möglichst früh auch den Kontakt mit den Eltern und schildere ihnen die Facts, ohne zu werten. Sie müssen wissen, dass ich evtl. auch weitere Hilfestellungen vermitteln kann, dass ich mich gerne um ihr Kind kümmere.

Damit ist der Bogen gespannt zum anfangs zitierten Elterngespräch, welches mir bezüglich des Umgangs mit von ADHS betroffenen Kindern neue Blickwinkel eröffnete.
Wie ist es nun also, wenn man betroffene Kinder in der Klasse hat? Anstrengend, intensiv, herausfordernd, nicht einfach! Und ausserdem sehr bereichernd, lustig, überraschend, lehrreich, erstaunlich, würzig, farbig, wunderbar herzlich.

Markus P. Harzenmoser
Seit 1984 Primarlehrer
Verheiratet, Vater von zwei Töchtern
Viele Jahre Jugendgruppenleiter einer Pfarrei
Langjähriger Trainer einer Gehörlosen-Handball-Mannschaft