ADHS-Organisation elpos Schweiz

Achterbahnfahrt bis zur Diagnose

Erfahrungsbericht von Eltern

ADHS-Organisation elpos Zürich – Erfahrungsbericht – Achterbahnfahrt bis zur Diagnose ADHS

Der Winter hat in seiner Pracht ein kleines Wunder mitgebracht…

Dieser Spruch stand vor 11 Jahren in der Geburtsanzeige unseres Sohnes Nevio. Dass mich dieses kleine Wunder ein paar Jahre später in der Erziehung an meine Grenzen bringen würde, ahnte ich damals noch nicht. Ich machte mir nicht speziell Gedanken darüber, wie ich mein Kind erziehen will. Wichtig war mir einfach, ihm Normen und Werte mit auf den Lebensweg zu geben, die auch ich mitbekommen hatte.

Nevio als Säugling

Unser Sohn war ein total zufriedenes, pflegeleichtes Baby und schlief viel und gut. Einzig beim Stillen war er sehr schnell abgelenkt und nervös, wenn er von irgendwo her etwas hörte. Überhaupt war Nevio sehr lärmempfindlich.

Musik, laute Geräusche oder Besucher brachten ihn immer etwas aus der Ruhe. Schnell wurde er nervös und war dann manchmal wie «aufgezogen». Oft reagierte er mit Bauchschmerzen («Krämpfli»). Ich achtete darauf, dass Nevio einen gleichmässigen Tagesablauf hatte und seinen Mittagsschlaf zu Hause in der gewohnten Umgebung halten konnte. Als Gute-Nacht-Ritual badete ich ihn täglich und er genoss das sehr. Tagsüber zeigte mein Sohn eine unglaubliche Energie. Manchmal fragte ich mich, wo er diese her hat! Für mich war er einfach ein sehr temperamentvolles Kind und ich führte dies auf seine «südländischen» Wurzeln zurück. Als Nevio 5 Monate alt war, musste ich aus familiären Gründen – ich hatte mich vom Kindsvater getrennt – meine Arbeit wieder aufnehmen. Der Krippenplatz war bereits reserviert. Bei einem Schnupperbesuch begann Nevio jedoch loszuschreien und hörte nicht mehr auf, bis ich – ebenfalls weinend – mit ihm fluchtartig die Krippe verliess. Noch nie hatte ich ihn so ausser sich gesehen, er liess sich kaum mehr beruhigen. Das war schlimm für mich und ich hätte es nicht übers Herz gebracht, ihn in der Krippe abzugeben. Er brauchte so viel Zuwendung und war sehr anhänglich. Meine Eltern erklärten sich bereit, ihn zu betreuen, währenddem ich arbeitete. Ich wusste, dass er bei ihnen bestens aufgehoben ist und konnte so beruhigt sein.

Die Umstellung in der Betreuung meisterte Nevio problemlos. Er war zu Hause, in seinem gewohnten Umfeld und der Tagesablauf blieb derselbe. Das war mir wichtig. Nur mit der Ernährung war es schwierig. Er weigerte sich, die Nahrung von anderen Personen anzunehmen. Obwohl es abgepumpte Muttermilch war, klemmte er einfach seinen Mund zu und drehte den Kopf weg. Wenigstens nahm er etwas Flüssigkeit zu sich, so dass es reichte, bis ich nach Hause kam. Alle Tricks brachten nichts. Das machte mich etwas stutzig, aber ich dachte, das kriegen wir schon hin. Allerdings brauchte es unglaublich viel Geduld.

Kleinkinderzeit

Nevio war ein sehr aufmerksames und interessiertes Kleinkind. Mit 9 Monaten war er bereits auf den Beinen und konnte mit 11 Monaten frei gehen. Sein Bewegungsdrang war unglaublich. Es fiel ihm zudem nicht schwer, sich alleine zu beschäftigen. Er baute gern und arbeitete an seiner Werkbank. Von Anfang an war er sehr tierliebend und respektierte alle Lebewesen. Die Tiere nahmen ihn so wie er ist und das merkte Nevio. Auch liebte er es, wenn ihm vorgelesen wurde. Täglich gingen wir bei jedem Wind und Wetter nach draussen.

Trotzphasen gab es nicht speziell. Mein Sohn war kein Kind, das im Supermarkt auf den Boden lag und einen Wutanfall bekam. Er kroch jedoch unter die Regale, spielte Verstecken oder kletterte in die Kühltruhe. Der Supermarkt war für ihn ein Spielplatz. Das gab genauso viele böse Blicke und Kommentare wie bei Wutanfällen.

Mit 3 ½ Jahren besuchte Nevio eine Waldspielgruppe. Er war ein absoluter Draufgänger, hatte vor nichts Respekt und war stets am schmutzigsten. Oft fragte ich mich, wie man es schafft, so schmutzig zu sein! Doch Nevio war der glücklichste Junge im Wald. Trotzdem begann er, sich zu verändern. In der Gruppe war er ein Einzelgänger. Und er wurde vermehrt impulsiv und aggressiv. Manchmal hatte ich das Gefühl, es brenne bei ihm eine Sicherung durch. Nevio konnte von 0 auf 100 ausrasten, wenn etwas nicht so lief, wie er wollte. Ich versuchte es mit einer Erziehungsmethode, auf die ich im Internet gestossen war und handelte strenger und konsequenter. Wenn möglich nahm ich Nevio aus dem «Problemumfeld» und brachte ihn zum Herunterfahren in einen anderen Raum. Zwar wurde er im Moment ruhiger, sonst aber aggressiver und mir tat es leid, wenn er so alleine irgendwo sitzen musste. Ich merkte, dass ich das eigentlich nur mache, damit das Umfeld nicht denkt, ich hätte es nicht im Griff! Der Druck wurde enorm. Ich hatte das Gefühl, versagt zu haben und machte mir Vorwürfe. Also hörte ich wieder auf damit und sagte mir, dass es nur eine Phase sei!

Nevio war zudem ein kleiner Schusselkopf. Ständig stiess er sich irgendwo und verschüttete am Tisch alles mögliche. Ich war dauernd dabei, irgendwelche Dinge in Sicherheit zu bringen. So zog ich mich mehr und mehr zurück und machte kaum noch Besuche. Stets begleitete mich ja die Angst, mein Sohn mache etwas kaputt oder raste aus. Und Nevio wollte ich damit vor den bösen Blicken und der dauernden Kritik beschützen. Wir trafen uns nur noch mit Leuten, die sein Verhalten akzeptieren konnten und mir nicht immer das Gefühl gaben, alles falsch zu machen. Das bedeutete aber auch, eher isoliert zu sein. Die Grosseltern, die mich bei der Erziehung unterstützt hatten, machten sich ebenfalls grosse Vorwürfe. Sie dachten, vieles falsch gemacht zu haben und zeigten zunehmend Mühe, Nevio gerecht zu werden. Unbewusst zogen auch sie sich mit ihm zurück, wenn sie ihn hüteten. Nur noch selten nahmen sie ihn auf Ausflüge oder zu Besuchen mit, weil sie nicht wussten, wie sie mit ihm umgehen sollten. Ich konnte ihnen nicht helfen, verstand jedoch ihr Verhalten und gleichzeitig verletzte es mich.

Im Kindergarten

In Nevios Kindergarten fand wöchentlich ein Waldmorgen statt. Dieser war für ihn sehr wichtig. Ansonsten kam mir mein Sohn wie ein junges, eingesperrtes Tier vor, das versucht, aus der vorgegebenen Struktur auszubrechen. Zuhause wurde er noch lauter und aggressiver. Im Kindergarten hatte er Mühe in der Gruppe, sich an Regeln zu halten und ruhig zu sitzen. «Eine schwierige Gruppenkonstellation» war die Begründung. Der SPD wurde eingeschaltet und es fanden Gespräche statt. Ich war offen für Tipps bezüglich Erziehung, merkte aber bald, dass mir die Schuld an seinem Verhalten zugeschoben wird! Dreimal war ich dort, dann hatte ich mir genug Vorwürfe angehört. Der SPD vermittelte mir klar, dass ich bis jetzt eigentlich alles falsch gemacht hätte, dem Kind fehle bloss eine strenge, väterliche Hand. Ich war am Boden zerstört. Zuhause wurde ich noch lauter und die Abwärtsspirale drehte sich immer schneller.

Nevio konnte ich teilweise nicht mehr erreichen. Da er immer sehr gut auf Plüschtiere reagiert hatte, kaufte ich eine Handpuppe, um wenigstens über diese an ihn heranzukommen. Nevio erzählte dieser Puppe viel und manchmal waren wir einfach nur traurig, weil alles nicht mehr so lief, wie wir wollten. Eigentlich musste ich von früh bis spät nur schimpfen, fühlte mich von allen Seiten unter Druck gesetzt und wollte das wieder in den Griff bekommen! Wenn ich mit meinem Sohn alleine war, hatten wir es besser, meine Toleranzgrenze war hoch! Aber das wiederum verstand Nevio nicht, da ich auf dieselben Situationen nie gleich reagierte. Wenn wir zu Besuch waren oder welchen hatten, war ich strenger und tolerierte weniger. Das Umfeld erwartet ja, dass ein Kind am Tisch sitzt, nicht mit den Händen isst, nicht vorlaut ist, nicht schmutzig usw.. Bis Schuleintritt hatte ich fast alle Erziehungsmethoden durch und verschiedene Ratgeber gelesen. Mal streng, mal autoritär, mal anti-autoritär… aber egal, was ich versuchte, es wurde nichts besser, im Gegenteil.

Schulstart

Nach einem ¼ Jahr gab es kurzfristig einen Lehrpersonenwechsel und bald darauf wurde ich zu einem ersten Gespräch eingeladen. Unvorbereitet ging hin und es war eine Katastrophe. Nevio sei frech, aufmüpfig, halte sich nicht an Regeln, drohe ständig, er gehe nach Hause und sei im Unterricht kaum tragbar. Es standen nur Vorwürfe im Raum, mögliche Massnahmen oder Vorschläge kamen keine. Die Lehrperson nahm sein Verhalten persönlich und konnte nicht gut damit umgehen. Das Familienmodell war ihr ebenfalls ein Dorn im Auge und ich musste mir anhören, dass Nevio deshalb so ist, wie er ist! Ich zog mich noch mehr zurück und wir nahmen kaum mehr am Leben «draussen» teil. Wir waren ja nicht mehr gesellschaftsfähig. Ich baute eine Fassade auf, eine gewisse Beherrschtheit, Distanz zu Emotionen und funktionierte nur noch. Durch all dies hatte ich keine Energie mehr für Nevio. Mein Sohn war extrem unglücklich in der Schule, weinte oft und hatte wieder Bauchschmerzen. Ich wurde lauter, Nevio noch aggressiver und wir waren plötzlich eine unglückliche kleine Familie. Wo waren die schönen Momente? Ich merkte, dass ich das nicht mehr lange durchhalten kann und wir nur noch mit externer Hilfe aus dieser Situation heraus kommen. Im Internet recherchierte ich, warum sich Kinder so verhalten und stiess immer wieder auf Berichte zur ADHS. Ein erneutes, herablassendes Schulgespräch war dann der Auslöser, mich um eine seriöse Abklärung zu bemühen. Für mich war klar: Wenn ich Hilfe anfordere, dann dort, wo ich will und es kam nur eine Adresse in Frage. Die Anmeldung musste über den Kinderarzt laufen. Dieser war sich eigentlich sicher, dass es keine ADHS ist. Erst auf meinen ausdrücklichen Wunsch wurde ich beim Fachpsychologen angemeldet. Ich kämpfte für Nevio um diese Abklärung, denn ich hatte das Gefühl, es ist 5 vor 12!

Vor der Abklärung

Nevio konnte unterdessen nur noch ein paar Minuten am Tisch sitzen, danach musste er aufstehen und an Ort und Stelle trippeln. Das akzeptierte ich irgendwann. Hausaufgaben machen war sehr mühsam. Manchmal musste ich ihn einfach nach draussen schicken, damit er ein paar Runden laufen und sich nachher wieder besser konzentrieren konnte. Am Abend setzte ich ihn vor den Fernseher, denn das waren die einzigen, ruhigen Minuten für mich. Ich musste alles 100 Mal sagen, doch es zeigte kaum Wirkung. Oft brauchte ich Nerven wie Drahtseile. Aber wenn genug war, war genug. Dann wurde ich laut. Für alltägliche Abläufe brauchte Nevio Monate oder Jahre, bis er es alleine konnte. Und oft hatte ich das Gefühl, ich fange immer wieder von vorne an. Kurzfristige Änderungen im Tagesablauf waren für meinen Sohn schwer zu akzeptieren. Auf Umstellungen musste ich frühzeitig hinweisen.

Start mit der Therapie

Die Abklärung zeigte dann klar, dass Nevio eine ADHS mit syndromtypischen Verhaltensstörungen, neuropsychologischen Funktionsstörungen und hohem IQ hat. Obwohl ich es eigentlich geahnt hatte, haute mich die Diagnose um. Vor allem die Therapievorschläge zogen mir den Boden unter den Füssen weg. Ich weiss nicht mehr, was ich mir erhofft hatte, aber Medikation war das Letzte, was ich wollte. Multimodale ADHS-Therapie wurde mir empfohlen. Ich solle es mir überlegen. Da die Situation aber kaum mehr auszuhalten war, gab es nichts mehr zu überlegen und wir starteten sofort.

Wie sage ich es meinem Umfeld? Das war meine grösste Sorge. Ich erzählte nur wenigen, ausgewählten Leuten von der Diagnose und dass Nevio Medikamente nimmt.

Leben mit ADHS

Die Wirkung der Therapie war unglaublich. Plötzlich war Nevio ein ansprechbares Kind. Er konnte sich konzentrieren und Aufgaben machen, ohne Theater. Die Schulleistungen waren stets gut und nach einem Lehrpersonenwechsel gab es sogar in Sozial- und Selbstkompetenz positive Feedbacks. Mein Sohn hat sich eine gute Position in der Schule erkämpft. Er ist kein Aussenseiter mehr und hat ein paar gute Freunde. Dazu kommen Erfolgserlebnisse und gute Noten. Nevio hat sich in den letzten zwei Jahren positiv entwickelt. Nach wie vor braucht er wiederkehrende Rituale und viel Routine. Ich versuche, einen möglichst gewohnten, gleichmässigen Rhythmus vorzugeben. Jede Woche läuft bei uns eigentlich gleich ab. Schwierig für mich ist nach wie vor, mit Kommentaren anderer umzugehen. Oft muss ich mir Bemerkungen anhören, dass ich strenger und konsequenter sein müsste oder ich werde vorwurfsvoll gefragt, warum er dies oder jenes noch nicht macht oder kann. Verabredungen werden immer noch nur mit ausgewählten Leuten getroffen, die Nevio verstehen und akzeptieren. Am Abend ist um 20.30 Uhr Ruhe! Dann benötige ich noch etwas Zeit für mich. Meistens lese ich, das ist meine Erholung. Ich brauche Zeit für mich alleine, in der keiner etwas von mir will und möchte dann nicht mehr reden oder telefonieren. Es gibt heute wieder viele gute, aber auch schlechtere Tage. Für diese brauche ich Energie. Zum Glück überwiegen die guten Tage und wir können wieder etwas zusammen unternehmen. Hilfe hole ich mir nur dort, wo ich auch ernstgemeinte Unterstützung bekomme. Dank fachpsychologischer Unterstützung haben wir es aus der Abwärtsspirale geschafft und können wieder am Leben teilnehmen. Geduld, Verständnis und Unterstützung wurde uns von Seiten der Fachperson entgegengebracht. Gute Ratschläge und Tipps bezüglich Erziehung kann ich von dieser Seite annehmen.

Zusammenfassend

Mir ist bewusst, dass ich relativ lange gewartet habe, bis ich professionelle Unterstützung angefordert habe. Ich hatte das Gefühl zu versagen, wenn ich es nicht alleine schaffe. Unterdessen bin ich froh, Hilfe gefunden zu haben, die für uns passt und vor allem, die ich akzeptieren kann. Zusammenfassend möchte ich anderen Eltern empfehlen, möglichst schnell professionelle Unterstützung anzunehmen und diesen Schritt als Stärke zu sehen – je früher, desto kürzer die Leidenszeit für das Kind und die ganze Familie. In keiner Weise will ich irgendwelche Institutionen oder Erziehungsmodelle in Frage stellen. Der Bericht enthält nur meine Meinung sowie Nevio’s und meine Sichtweise. So, wie wir es eben erlebt haben.